UN SOGNO AZZURRO
Trotz weiterhin chronischen Zeitmangels muss ich jetzt diese Story einfach machen. Es passt einfach alles zu gut.
„Sogno azzurro“ – blauer Traum – war das Motto der italienischen Nationalmannschaft vor der WM 2016. Was draus geworden ist, wissen wir. Aber den Traum, einmal ein „Azzurro“ zu sein, haben natürlich viel junge italienische Fußballspieler. Und von so einem soll hier die Rede sein.
1. Der geilste Tag
(06.08.2022)
Das war er, Leute! Der große Moment! Der Moment, mit dem für mich der Weg zum sogno azzurro beginnen sollte, zu dem Traum davon, einer der Azzurri zu werden!
Naja, sollte! Mein Papá fand schon immer, dass ich zu Übertreibungen neige. Aber was wollt ihr – in der 61. Spielminute war es tatsächlich endlich so weit, dass Paolo Barbagli eingewechselt wurde und seine ersten Spielminuten absolvierte. Wenn das kein Anfang ist! Gut, zugegeben, es ist nicht die Serie A und auch nicht Bayern München in der Bundesliga. Sondern es ist Norimberga, die Stadt, in der mein Onkel Pierfranco eine Pizzeria hat. Und „il club“ spielt halt zurzeit nur in der zweiten deutschen Liga. Aber was soll’s, es ist allemal besser, als überhaupt nicht Fußball zu spielen.
Aber ich merke gerade, ich bin hier schon wieder viel zu schnell unterwegs. Ihr kennt mich ja noch gar nicht. Ich habe heute diesen Blog angefangen, um euch zu erzählen, wie (vielleicht) aus einem ganz normalen italienischen Jungen, der den Fußball liebt, ein künftiger Star der squadra azzurra wird. Mein Name ist Paolo Barbagli und ich stamme aus Milano.
Si si, schaut euch diese Karteikarte mal ruhig eine Weile genau an. Sind das nicht irre Zahlen für einen 19-Jährigen – Marktwert! Gehalt!! Und so Sachen wie „Technik 99“ und die Werte von Ballkontrolle und Vorstößen. Okay, am Selbstvertrauen ließ sich da noch arbeiten, aber das war ja auch vor dem 6. August 2022. Nach meinem ersten Spiel für den 1. FC Nürnberg hat sich das natürlich gleich gewaltig geändert.
Die Fußballkenner unter euch wissen natürlich, was „ST“ heißt: Ich bin Stürmer, immer schon gewesen. Weil das Toreschießen halt das Schönste an diesem Sport ist. Und weil die Mädchen am meisten auf die Typen stehen, die Tore schießen. Naja, mir laufen sie jetzt nicht gerade nach, aber was nicht ist, kann ja noch werden. Nun bin ich kein Knipser oder Sturmtank oder Strafraumstürmer, sondern ein Dribbler, also einer, der seine Tore gern auch selbst mit herausspielt. Und falls ihr euch fragt, was diese Zeichen da hinter „Charakter“ sollen – die bedeuten: Einstellung, nachlässig, Fairness, Legionär und Sprachgenie. Was es damit konkret auf sich hat, weiß ich selbst nicht so genau. Aber ihr könnt im Laufe meiner Story ja mal selbst checken, ob ihr irgendsolche Charakterzüge bei mir finden könnt. „Sprachgenie“ finde ich allerdings selbst etwas übertrieben, denn außer meiner Muttersprache spreche ich nur ganz gut Deutsch, weil halt mein Onkel Pierfranco diese Pizzeria hat.
Aber ich labere hier ohne Unterlass, dabei wollt ihr ja wahrscheinlich endlich wissen, gegen wen wir denn da gespielt haben, wo ich nach einer Stunde eingewechselt wurde. Seht mal hier:
Also schon echt ein wichtiges Spiel! Für alle, die sich im deutschen Fußball nicht so auskennen – will heißen, vor allem für meine Follower zu Hause in Mailand – muss ich erklären, dass der MSV Duisburg auch in der deutschen „2. Bundesliga“ spielt, ebenso wie zum Beispiel Hannover, Leipzig und Frankfurt; von denen habt ihr bestimmt schon gehört. Ach, wisst ihr, damit ihr gleich mal einen Überblick bekommt, seht ihr hier unsere Ligagegner der Saison, aufgelistet nach Mannschaftsstärken:
Wir sind also schon ganz schön gut! Und ja, unser Saisonziel ist es, in die Bundesliga aufzusteigen. Da muss man so einen Konkurrenten wie Duisburgo, der nach zwei Niederlagen aktuell 16. in der Ligatabelle war, schon mal in der ersten Pokalrunde aus dem Weg räumen.
Bis zu meiner Einwechslung ist es allerdings nicht so optimal gelaufen. Das hatte sich Carlos Barrena, unser Trainer, zweifellos anders vorgestellt. Dabei lag unsere Teamstärke bei 739 und die der Gegner nur bei 633. Auch die Mannschaft, die er aufgestellt hatte, konnte sich eigentlich durchaus sehen lassen:
Wer meine Teamkameraden so im Einzelnen sind, darauf gehe ich später noch ein. Das sind alles großartige Fußballer, von denen ich noch sehr viel lernen will. Aber an dem Tag lief echt nicht viel zusammen. Irgendwie hatten wir den Gegner vielleicht unterschätzt oder uns überschätzt, jedenfalls lieferte nur Jan Kirchhoff eine gute Partie, der ein paar Mal Aktionen ablieferte, dass man sich bei ihm glatt bedanken musste, weil wir nicht in Rückstand gerieten.
In der 55. Spielminute hatte es gerade etwas Aufregung gegeben, weil Turhan Algür auf Vorarbeit von Naqshband und Pinola ins Tor getroffen hatte, aber das war so was von klar Abseits, dass wir nicht wirklich ernsthaft protestierten, als der Schri den Treffer nicht gab. Und dann winkte mir der Chef. „Ich, echt?“, habe ich gefragt. Dabei hatte er mir vorher schon zugeraunt, dass ich heute wohl zu meinem ersten Einsatz kommen würde. Ich kann nur sagen, ich riss mir die Trainingshose runter und war sofort von Null auf Hundert, also perfekt bereit.
Viel besser wurde es dadurch aber auch nicht. Muss ich ehrlich zugeben. Ich rannte zwar, was das Zeug hielt, und versuchte mich exakt an die taktischen Vorgaben zu halten, aber es kam einfach nichts Ordentliches zustande. Wir hatten zwar am Ende 59 Prozent Ballbesitz, aber die Pässe kamen zu oft nicht an und Thomas Hertzsch und ich erhielten vorn kaum mal ein verwertbares Zuspiel.
So kam es, dass wir in die Verlängerung mussten. Der Gegner hatte schon dreimal ausgewechselt, bei uns kamen mit Neustädter und Bastan erst spät noch zwei frische Spieler, aber auch das brachte nichts, die 120 Minuten gingen torlos zu Ende.
Es kam also, ihr ahnt es schon, zu den tiri di rigore, im Deutschen: Elfmeterschießen. Das ist übrigens witzig: Erst seit ich im Juli aus Mailand nach Deutschland gekommen bin, weiß ich, dass der Strafstoßpunkt genau elf Meter vom Tor entfernt ist – in Deutschland weiß das jedes Kind!
Nun habt ihr vielleicht oben schon gesehen, dass meine Fähigkeiten vom Strafstoßpunkt mit 70 bewertet werden. Deswegen hoffte ich ja auch gegen Ende des Spiels mehr und mehr, dass kein Tor mehr fallen würde. Okay, das 1:0 für uns, das wäre mir natürlich recht gewesen. Andererseits war ich ziemlich sicher, dass der Chef mich auch einen Elfer schießen lassen würde. Und so kam es dann auch.
„Stéph, du übernimmst den ersten“, bestimmte er, als wir nach dem Abpfiff zusammen standen, „wie immer. Und Javier den zweiten. Dann kommen Paolo, Thomas und Jan.“
Ich gebe zu, ich musste mich schwer zusammenreißen, nicht in lauten Jubel auszubrechen. Ich durfte einen calcio di rigore treten! Natürlich hätte es ziemlich blöd ausgesehen, wenn ich da jetzt einen Freudentanz aufgeführt hätte, denn wir hatten das Spiel noch lange nicht gewonnen und vor allem – ich hatte den Strafstoß noch nicht verwandelt!
Nach einer gefühlten Ewigkeit ging es endlich los. Aber was war das denn? Nachdem Duisburgs Luis Romero sein Ding reingemacht hatte, lief Stéphane M’Bia an – und schoss genau in die Arme von Bert Parreihs! Der MSV führte mit 1:0.
Zum Glück machte es der nächste Gegner, der Stürmer Thomas Wagner, nicht besser. Florian, unser Keeper, wurde begeistert dazu beglückwünscht, dass er den Ball halten konnte. Und nachdem Javier Pinola seinen sicher verwandelt hatte, scheiterte gleich der nächste Duisburger, Jürgen Gjasula, indem er das Leder über die Latte knallte. Und dann kam also ich.
Ganz sicher! Puh, dabei wäre mir beinahe das Herz in die Hose gerutscht. Und erst auf dem Rückweg zum Mittelkreis, wo ich von den anderen mit Beifall empfangen wurde, wurde mir klar: Ich hatte gerade mein erstes Tor für den 1. FC Nürnberg geschossen! Und damit hatte ich der Mannschaft möglicherweise den Einzug in die nächste Runde ermöglicht!
Tatsächlich trafen die beiden nächsten Schützen, ehe die Entscheidung zu unseren Gunsten fiel:
Hinterher wurde kein Wort darauf verschwendet, dass wir es uns mit einem insgesamt ziemlich schwachen Spiel unnötig schwer gemacht hatten. Es wurde nur gefeiert! Auch der Chef hatte nichts dagegen, ja, er war mittendrin, als wir bis nach Mitternacht in der Hotelbar unseren Erfolg begossen.