Als Matze mich anrief, wusste ich noch nicht, was auf mich zukommen würde. Wäre ich ansonsten vielleicht gar nicht ans Telefon gegangen? Ich weiß es nicht ...
Wie dem auch sei: Mein Handy klingelte, Matzes Nummer wurde angezeigt und ich ging ran.
Matze war ein ... Kumpel? Bekannter? Das trifft es halbwegs. Definitiv konnte man ihn nicht als „Freund“ bezeichnen, ich ohnehin nicht, denn ich würde in meinem Leben nur ganz wenige Personen als „Freund“ titulieren. Zu der damaligen Zeit ohnehin nicht.
Ich kannte Matze seit ein paar Jahren als „Fußballvater“. Sein Sohn, benannt nach einer US-amerikanischen Metropole (ich vermutete, es handelte sich um den Zeugungsort des Jungen, vielleicht lag ich damit aber auch komplett falsch), spielte mit meinem Erstgeborenen ein paar Jahre in derselben Mannschaft. Ich glaube, mit zehn wechselte Matzes Filius zu uns, ein damals schon großer Junge mit langen, dünnen Beinen, als aktiver Leichtathlet auch sehr flink. Fußballerisch war er ordentlich und eine gute Ergänzung des Teams, in dem mein Sohn der Torwart war und das seinerzeit im Landkreis und darüber hinaus von Erfolg zu Erfolg eilte.
Matze war stylisch, gut gekleidet, jugendlich-forsch - und echt nett. Er war Prokurist beim örtlichen Stromversorger und Chef des Hallenbades und er kannte Gott und die Welt und noch mehr Leute. Im Laufe der nächsten Jahre engagierte er sich immer mehr im Verein und wurde zu einem unverzichtbaren Bestandteil in der Elternschaft und auch im Verein.
Dass er mich anrief, war trotzdem überraschend. Unser Kontakt war dadurch, dass mein Großer in ein Nachwuchsleistungszentrum gewechselt war, etwas eingeschlafen und hatte sich wieder mehr intensiviert, als der Große nach 18 Monaten wieder zurückkehrte, um Spielpraxis zu sammeln, die er im NLZ nicht mehr bekam.
Nach dem üblichen Vorgeplänkel kam Matze dann zur Sache:
„Du kennst Dich doch im Fußball aus und hast ja im Moment vielleicht auch etwas Ablenkung nötig.“
Das waren nun zwei Halbwahrheiten in einem Satz ... Kennt man sich im Fußball aus, wenn man am PC Fußballsimulationen spielt, selber in einer Betriebssportmannschaft, aber nie im Verein, gekickt hat, seit ein paar Jahren als Fußballvater unterwegs ist und eine Mannschaft von 6jährigen übernommen hat, weil es kein anderer wollte, und mit dieser Mannschaft seit drei Jahren immerhin so gut umging, dass jedes einzelne Kind immer wieder gerne zum Training kam? Ok, wir hatten sogar die Hallenkreismeisterschaft gewonnen ... Aber auskennen?
Und das mit der Ablenkung ... Ich hatte mich verliebt, in eine andere Frau als meine Ehefrau, was dazu führte, dass ich aus dem gemeinsamen Haus ausgezogen und in einer 2-Zimmer-Wohnung untergekommen war. Meine Freundin hatte selber Familie und wohnte 100 km entfernt, was die Beziehung zu einer fast ausschließlichen Wochenendbeziehung machte. Alles in allem war es grade alles nicht so einfach, aber brauchte ich deswegen Ablenkung?
Während ich darüber noch sinnierte, erzählte Matze davon, dass den 1. Herren der Trainer abhanden gekommen war. „Beruflich bedingt. Paule hat einen neuen Job bekommen, in Aschaffenburg. Er wird zum 01.10. umziehen und hat dem Vorstand gesagt, dass er ab sofort keine Zeit mehr hat. Wohnung suchen, Umzug planen undsoweiterundsofort. Der Vorstand ist natürlich nervös und an einer schnellen Wiederbesetzung interessiert. Und als ich gestern Abend mit Martin und Sven essen war und wir mögliche Kandidaten durchgegangen sind, kamen wir auf Dich ...“
Martin und Sven. Das waren der erste Vorsitzende und der Jugendabteilungsleiter, der aber mehr war als nur ein Jugendabteilungsleiter. Ohne sie lief zumindest im Jugendfußball nichts, aber dass sie auch über die 1. Herren bestimmten, das war mir neu.
„Auf mich? Aber ich habe nie selber gespielt und bisher nur Kinder trainiert. Kinder, noch nicht mal Jugendliche! Da kann man mich doch nicht auf die 1. Herren loslassen. Die spielen ja auch nicht irgendwo, nicht in der 2. Kreisklasse oder so, sondern in der Landesliga. Kann ich die überhaupt mit meiner C-Lizenz trainieren?“
Matze lachte sein Matze-Lachen, mit dem er noch jede/n rumbekommen hatte. „Das ist kein Problem, Sven hat da schon seine Fühler ausgestreckt ...“ und es folgten ein paar Minuten mit salbungsvollen Worten, Bauchpinselei, Argumenten, Versprechungen und Verlockungen.
Am Ende war ich so weit, dass ich ihm auch einen Gebrauchtwagen und eine Waschmaschine abgekauft hätte, dabei hatte ich beides schon und eigentlich auch nicht genügend Geld übrig für solche Anschaffungen. Ich willigte ein.
Als ich am Abend mit meiner Freundin per Skype telefonierte, brauchte sie nicht mal eine halbe Minute, um herauszubekommen, dass etwas nicht stimmte. Weitere zwei Minuten dauerte es, dann sah sie mich mit ihrem unnachahmlichen Blick an. „Reichen Dir Deine Jungs nicht? Wir haben so schon kaum Zeit für uns - wie soll das dann erst werden, wenn Du eine Herrenmannschaft trainierst?“
Natürlich hatte sie Recht. Das wusste ich und trotzdem argumentierte ich dagegen.
Versprach, genügend Freiraum für uns zu schaffen.
Verwies darauf, dass ich ein Sonntagskind sei, das bisher alles geschafft habe.
Dass ich schon alles unter einen Hut bringen würde.
Dass wir uns ja trotzdem sehen würden, weil die Spiele doch nur an einem Tag des Wochenendes stattfänden.
Dass das Training an den Werktagen sei.
Dass sie ja auch mit auf den Platz kommen könne.
Dass sie doch immer gesagt habe, sie wolle alle Seiten meines Lebens mit mir teilen und Fußball gehöre nun mal dazu.
Ich redete und redete - doch letztlich versuchte ich wohl nur, mich selbst zu überzeugen.
Das Telefonat endete irgendwann, ohne dass wir zu einer wirklichen Annäherung kamen. „Letztlich machst Du ohnehin, was Du willst. Gute Nacht ...“